Veröffentlicht in „Catolicismo“ Nr. 14 – Februar 1952 (*)
Plinio Corrêa de Oliveira
Eines der wichtigsten Ereignisse in diesem (20.) Jahrhundert ist ohne Zweifel das Treffen von Paris, bei dem die Vertreter von Frankreich, Italien, West-Deutschland und die kleineren Staaten der Benelux-Gruppe – Belgien, Niederlande und Luxemburg – die Bildung der Europäischen Union beschlossen haben, als eine Einrichtung des Öffentlichen Internationalen Rechts und folglich der Einrichtung einer neben den nationalen Regierungen zusätzlichen gemeinsamen Regierung mit überstrukturellen Charakter.
Vor dem letzten Weltkrieg würde jemand, der solch einen Plan für das 21. Jahrhundert vorgeschlagen hätte, als Träumer gehalten und als Schwachsinniger, wenn er diesen Plan in unseren Tagen für durchführbar hielte.
Europa stand damals noch unter dem Feuer der französisch-deutschen Feindschaft, die aus dem Konflikt von 1914-1918 hervorging und eine wichtige Rolle spielte für den Ausbruch des Krieges 1939-1945. Es schien, dass alle europäischen Länder, die im eigenen kulturellen und wirtschaftlichen Leben strahlten, aber doch gezeichnet von den Ressentiments, dem Ehrgeiz, den Feindseligkeiten der modernen Zeiten, es für unmöglich hielten, in einem einzigen politischen System, so vage und locker es auch sein würde, eingereiht zu werden.
Die Tragödie des 2. Weltkrieges und der daraus folgende wirtschaftliche Zusammenbruch der europäischen Länder, ihr ermüdetes kulturelle Leben und das Risiko – dass nun schon sieben Jahre andauert – einer neuen Invasion von Barbaren schufen günstige Bedingungen für die Verbreitung der Einheitsidee und rückten den Plan einer Europäischen Föderation in greifbarer Nähe.
Die Tragweite der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa
Die wirkliche Tragweite der Bildung der Vereinigten Staaten von Europa wurde vom Premierminister Italiens, Alcide de Gasperi, klar definiert, als er dieses Geschehen mit dem Akt der englischen Kolonien in Nordamerika durch welchen sie sich vereinten, um eine Föderation zu bilden, und dem Verzicht der Schweizer Kantone eine Sammlung souveräner Staaten zu sein, um einen Föderalen Staat zu bilden, verglich. Das amerikanische Beispiel ist zur Genüge bekannt. Man weiß, das England dreizehn vollständig unter sich unabhängige Kolonien in Amerika hatte, die jeweils eine direkte Verbindung zur Metropole hatten. Als sie die Unabhängigkeit gegenüber England ausriefen, sollten sie dreizehn verschiedene Nationen bilden. Doch diese Kolonien zogen vor, sich zu einer einzigen föderativen Nation zusammenzuschließen. Weniger bekannt, doch ebenso von Bedeutung, ist das Schweizer Beispiel. Als nach dem endgültigen Fall Napoleons im Jahre 1815 der Wiener Kongress die europäische Landkarte reorganisierte, machte er aus der Schweiz, die aus einer Vielzahl kleiner unabhängiger Kantone bestand und jeweils von einer herrschenden Klasse – Patrizier oder Landaristokratie – regiert wurden, eine Konföderation von 22 Kantonen, die unter sich unabhängig waren, nur verbunden durch eine “Föderalen Pakt”, der letztendlich nichts mehr war als ein Vertrag der Allianz und guter Nachbarschaft. Die Schweiz blieb weiterhin also kein Staat sondern eine Ansammlung von Staaten. Dieser Zustand endete nur als, nach heftigen Kämpfen, durch welche, die lokalen Eliten die Zentralisierung und die im “Sonderbund” vereinten Katholiken die protestantische Hegemonie verhindern wollten, und aus denen die Befürworter eines Schweizer Staates obsiegten. Daraus wurde die Schweizerische Verfassung von 1843 geboren. Diese hob die Kantone mit ihren eigenen Regierungen nicht auf und übertrug in die Hände einer zentralen föderativen Regierung die allgemeinen Interessen aller (wie im Fall der amerikanischen oder auch der brasilianischen Staaten). Die heutige Schweizer Republik war somit gegründet.
In beiden Prozessen, dem amerikanischen und dem schweizerischen, gab es also einen Weg von der Unabhängigkeit zur Bildung einer Föderation. Die vormals unabhängigen Staaten wurden zu autonomen Teilstaaten, deren Souveränität von einer zentralen Regierung übernommen wurde.
Dies ist, nach den deutlichen Worten des italienischen Premiers, was nun für Europa beschlossen wurde. Zwischen Frankreich und Deutschland, Italien und Holland usw. wird es künftig nicht mehr die bis heute bestehenden Kluften geben, sondern nur die Grenzlinie der fast ausschließlich administrativen Interessen, so wie sie zwischen Ohio und Massachusets, Rio und São Paulo oder Luzern und Freiburg existieren.
Wie man sieht, handelt es sich um ein enormes Ereignis. Es sind Nationen, die verschwinden werden, nachdem sie die Welt und die Geschichte mit der Ausstrahlung ihres Ruhmes ausgeschmückt hatten… und ein neuer Bundesstaat der erscheint, dessen Zukunft nicht leicht vorausgesehen werden kann.
Die Durchführbarkeit des Plans
Das erste Hindernis zur vollständigen Verwirklichung dieses Planes – der vorerst nur auf dem Papier steht, wie die Bildung eines Atlantischen Heeres und dergleichen – besteht in einem wahrscheinlichen Weltkrieg. Niemand kann vorhersehen was mit dieser keimenden Föderation während und nach einem Krieg geschehen wird. Sie kann sich sowohl endgültig festigen als auch im Feuergefecht verbrennen, so dass nicht einmal Spuren ihrer Asche übrigbleiben.
Selbst wenn wir den Fall eines Krieges ausschließen, werden andere Schwierigkeiten auftreten. Eine Föderation, die versucht mit einen Schwamm so viele Jahrhunderte der Geschichte zu verwischen, kann offensichtlich nicht nur von einer Gruppe von Politikern und Bürokraten durch die Unterzeichnung eines Vertrags aufgebaut werden. Eine lange Zeit der Werbung bei den verbündeten Völkern ist notwendig, um in ihnen das Bewusstsein zu bilden, dass über den nationalen Blöcken, in denen sie sich durch Bindungen, die im Blute stecken und leicht auszumachen sind, integriert fühlen, ein abstraktes föderatives Ganzes schwebt, dass nicht im Blut steckt, sondern nur in der Tinte, mit der der Vertrag geschrieben und unterschrieben wurde. Solange sich dieses Bewusstsein nicht gebildet hat, ist klar, dass dieser neuer Organismus noch nicht begonnen hat, natürliches und reales Leben zu besitzen. Doch nicht hier befindet sich die wirkliche Schwierigkeit. Der entpersonifizierte, geschwächte, durch das gegenwärtige Durcheinander orientierungslose Mensch, der in einer geistigen Abhängigkeit – der er sich genussvoll hingibt – von Presse, Radio und Fernsehen lebt, kann leicht zu allem Möglichen überzeugt werden. Es gibt “Techniker”, die im Geist dieses Menschen ein “Bewusstsein” für reale und unreale Dinge fabrizieren, die tatsächlich nie in der öffentlichen Meinung zugegen waren, mit der Gewandtheit eines Chirurgen, der in einem menschlichen Körper ein Stück Fleisch, ein Finger oder ein Auge einpflanzt, die ihm bis dann total fremd waren. Die Gefahr besteht viel mehr in der Bildung nationalistischer Strömungen in einigen Staaten der Föderation. Aber auch dies scheint wenig Aussicht zu haben. Eine Menschheit, die Tag für Tag gieriger nach Konsum, Ruhe und Lustbarkeiten greift, ist nicht geneigt sich über sich selbst zu begeistern, zugunsten von Nationalismen welcher Art auch immer …
So zeigt sich also, um unseren Eindruck zusammenzufassen, dass, ausgenommen im Falle eines Krieges, kein natürlicher Faktor die Bildung der Föderation aufhalten könnte. Um so mehr, da ihre Erbauer schon offiziell erklärt haben, dass sie Schritt um Schritt vorgehen werden, um nach und nach die Teile des neuen Organismus zusammenzufügen, klugerweise beginnend mit dem Grundstein.
Ist die Föderation etwas Neues?
Die Frage, ob die Föderation etwas Neues ist, muss ohne weiteres negativ beantwortet werden. In früheren Zeiten bildete Europa schon ein großes Ganzes föderaler Natur, in einem sehr erweiterten und allgemeinen Sinn des Wortes.
Im Jahr 476 erlosch das abendländische Römische Reich. Von Barbaren überzogen, gab es in Europa keine definierte Saaten mit dauerhaften Grenzen. Es war ein allgemein wildes Treiben, das sich nur besänftigte als die fortschreitende Tätigkeit der großen Missionare das üppige Keimen des Samens des Evangeliums sicherstellte. Zu dieser Zeit, da die Sitten und Gebräuche an Rohheit abgenommen hatten, das Leben sicherer und ruhiger geworden war, das allgemeine Wissen sich entwickelte und ausbreitete, bildete sich eine große Ansammlung christlicher Völker, die sich über ihre natürlichen Unterschiede hinaus durch zwei gemeinsame und tiefe Bande vereint fühlten, die aus einer großen Liebe und einer großen Gefahr entsprungen sind:
a) – aufrichtig und tief christlich, beteten sie in Geist und Wahrheit (und nicht nur gewohnheitsmäßig) Unseren Herrn Jesus Christus an, liebten und wollten wirklich seine Gebote halten und waren ihrer Aufgabe überzeugt, d.h., die Herrschaft dieser Gebote bis an die letzten Grenzen der Erde auszubreiten;
b) – als Frucht dieses folgerichtigen und starken Glaubens herrschte im Geiste aller eine gleiche Art den Menschen, die Familie, das gesellschaftliche Leben, Schmerz und Freude, Ruhm und Demut, Unschuld und Sünde, Reue und Vergebung, Reichtum, Macht, Adel, Mut, kurz, das ganze menschliche Leben zu verstehen.
c) – daraus ergab sich eine kräftige und substantielle Einheit in Kultur und Zivilisation, trotz der lokalen reichhaltigen Verschiedenheiten der einzelnen Nationen, Regionen, Lehen oder Städte;
d) – vor dem doppelten Druck der Sarazenen aus Afrika und den Heiden aus dem Osten Europas das Wissen gemeinsam einer großen Gefahr ausgesetzt zu sein, bei der alle allen zur Seite stehen mussten, um einen Sieg zu erringen, der ein Sieg aller sein würde.
Die Gesamtheit dieser Faktoren der Einheit fand in Karl dem Großem (742-814) ihren mächtigen Katalysator. Er war in den Augen seiner Zeitgenossen der ideale Typus eines christlichen Souveräns: stark, mutig, weise, gerecht, väterlich, mit einem tiefen Streben nach Frieden, dadurch unbesiegt im Kampfe, der es als seine höchste Aufgabe ansah, die Macht des Staates im Dienste der Kirche zu stellen, um das Gesetz Christi in seinem Reich aufrechtzuerhalten und die Christenheit gegen ihre Angreifer zu schützen. Dieses lebende Symbol verwirklichte seine vorgenommenen Ideale, und als Papst Leo III. im Jahre 800 ihn in der Lateranbasilika zum Römischen Kaiser des Abendlandes krönte, setzte er dem Werk Karls des Großen den schönsten Schlussstein auf: Ein großes Reich, das das gesamte christliche Europa umfasste, war gegründet. Ein Reich, das vor allem berufen war, den christlichen Glauben zu erhalten, zu verteidigen und zu verbreiten.
Dieses Reich währte von 809 bis 911. Im Jahre 962 erweckte es Kaiser Otto, der Große, wieder und begründete das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Unter vielen Schicksalsschlägen, deren schrecklichster die tragischen Spaltung durch den Protestantismus und das Aufkommen nationalistischer Tendenzen im 16. Jahrhundert, bestand diese große Institution zumindest theoretisch bis 1806, als Napoleon den letzten römisch-deutschen Kaiser, Franz II., zwang, die Auflösung des Heiligen Reiches zu akzeptieren und den Titel eines Kaisers von Österreich unter dem Namen Franz I. anzunehmen.
Trotz etlicher Krisenperioden durchzog das Heilige Römische Reich Zeiten großen Ruhmes. Seine Struktur diente tatsächlich, um das christliche Ideal einer großen Völkerfamilie auszudrücken, vereint unter dem mütterlichen Schatten der Kirche, um den Frieden, den Glauben und die Sitten zu sichern, um die Christenheit zu beschützen und in der ganzen Welt die freie Verkündigung des Evangeliums zu unterstützen.