Nelson R. Fragelli

 

Die Theologie der Geschichte, die Lehre

Leos XIII. und das Gedankengut von

Plinio Corrêa de Oliveira

 

 

 

 

 

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Am 19. März jährt sich zum 120. Mal das Apostolische Schreiben „Annum ingressi sumus“ („Beim Eintritt in das 25. Jahr“) von Leo XIII., in dem die tiefen Wurzeln der gegenwärtigen Krise meisterhaft analysiert werden. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Dokument, das heute leider in Vergessenheit geraten ist und das Denken von Plinio Corrêa de Oliveira tiefgreifend beeinflusst hat. 

Als eifriger Studierer der Dokumente des kirchlichen Lehramtes, in denen er die notwendigen Argumente für seinen ideologischen Kampf in der Katholischen Bewegung fand (1), schätzte Plinio Corrêa de Oliveira besonders das Apostolische Schreiben „Annum ingressi“von Leo XIII., das im Italienischen als Vigesimo quinto anno oder Parvenu à la vingt-cinquième année (französischer Originaltitel) bekannt ist (2).

Das Schreiben wurde am 19. März 1902 anlässlich des 25. Jahres des Pontifikats veröffentlicht. Dr. Plinio widmete ihm mehrere Artikel im Legionário, die von ihm geleitete katholischen Wochenzeitung (3), und später auch in der Monatszeitschrift Catolicismo (4). Dieses Dokument stellt eine der wichtigsten Lehren von Papst Pecci zu den historischen Ereignissen der Neuzeit dar. Jeder Gläubige, der um das Schicksal der Kirche besorgt ist, sollte sich über diese Lehren freuen, da er in ihnen gültige Grundsätze der Theologie der Geschichte findet, die von einem Papst gelehrt wurden, der den schrecklichen Sturm erkannte, in dem das Boot des Petrus segelte. Leider war dieses Apostolische Schreiben, das von Plinio Corrêa de Oliveira als „ebenso monumental wie ignoriert“ bezeichnet wurde, Gegenstand einer regelrechten Schweigekampagne.

Durchdringung der revolutionären Maximen von 1789

Der Papst appelliert zunächst an den historischen Sinn der Katholiken. Die sozialen und politischen Ereignisse der damaligen Zeit, so schreibt er, lassen sich nur verstehen, wenn man eine klare Vorstellung von den Ereignissen der Völker hat. Diese Vision ist absolut notwendig, insbesondere für den kämpfenden Katholiken, der die Gesellschaft nach den Grundsätzen seiner Religion gestalten will.

Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts waren die Ideen der Französischen Revolution allmählich in kirchliche Kreise eingedrungen. Die Liberalen begannen daraufhin, den Katholiken die Hand zu reichen und boten ihnen eine Verständigung an: Sobald sich der revolutionäre Sturm gelegt hatte, würden die Gläubigen in Ruhe beten, ihre Kirchen besuchen und ihre Andachten verrichten können, solange sie sich nicht in die politischen und ideologischen Fragen der Zeit einmischten. Die Hunderttausende von Märtyrern der Guillotine und der Vendée-Kriege wären vergessen, und alle könnten in Frieden leben.

Obwohl eine solche Taktik eindeutig die revolutionäre Strömung begünstigen würde, die 1789 in Frankreich den Sieg davontrug, schien die Einladung an die Katholiken dennoch attraktiv. Sie würden Frieden und Ruhe haben, ihre Kirchen wären nicht bedroht und ihre Seminare würden nicht geschlossen. Diese Idee bedeutete eine regelrechte „ketzererische Aktion“, da sie in der Praxis die freie Verbreitung revolutionärer Maximen in Schulen, Jugendbildungseinrichtungen, Universitäten, Fabriken, Handels- und Bankverbänden usw. ermöglichen würde. An sich für einen Katholiken inakzeptabel, fand diese Idee leider Sympathisanten in den Reihen der Kirche.

Die Notwendigkeit fester lehrmäßiger Grundsätze

Für Plinio Corrêa de Oliveira hatte der Appell Leos XIII. an die Katholiken, eine Theologie der Geschichte und folglich einen kämpferischen Geist angesichts der Probleme der Zeit, mit unmittelbaren Auswirkungen auf das konkrete Apostolat. Tatsächlich enthielt der liberale Vorschlag eine verlockende Konsequenz, die mit eine Schafspelz getarnt war. Indem man den Katholiken die große Vision der Geschichte vorenthielt und sie so in die Sakristeien sperrte, zielte der liberale Vorschlag darauf ab, der katholischen Jugend eine Geisteshaltung einzuflößen, nach der das Ideal eines jungen Mannes oder einer jungen Frau in der katholischen Bewegung darin bestehen sollte, sich ehrlich kennenzulernen und zu heiraten und dann in der Ruhe des Hauses die Religion zu praktizieren und sich auf die Erziehung der Kinder zu konzentrieren. Es war eine implizite Aufforderung, den kämpferischen Geist und den Aktivismus gegen die Übel der Zeit aufzugeben. Wenn überhaupt, wären es die zukünftigen Generationen, die sich mit ihnen auseinandersetzen müssten...

Eine weitere Gefahr für die jungen Katholiken seiner Zeit bestand laut Plinio Corrêa de Oliveira darin, als „bocchettoni“ abgestempelt zu werden, d.h. als schüchterne und apathische Gläubige, deren geistiger Horizont nicht außer den Wänden der Sakristeien hinausgeht; als „Dummkopf“, der nicht in der Lage ist, klare Vorstellungen von den aktuellen Themen zu haben; als „Schwächling“, der sich nicht in die Kontroversen der Zeit einmischen kann. Kurzum, ein liebenswürdiger und gutmütiger Mensch, der bereit war, sich auf alles Mögliche einzulassen, was ihn immer wieder nach links führte.

Das Apostolische Schreiben Leos XIII., so erinnerte Dr. Plinio, war ein eindringlicher Aufruf zum Studium der Geschichte und der ideologischen, sozialen und politischen Fragen der Zeit; es enthielt auch einen Aufruf zum Kampf, d.h. eine Aufforderung, sich mit dem Geist der Welt auseinanderzusetzen. Das Dokument forderte die Katholiken auf, feste Lehrgrundsätze zu haben und die Gesellschaft im Lichte des kirchlichen Lehramtes zu sehen. Der Legionário antwortete auf den päpstlichen Aufruf mit einem kraftvollen „Hier bin ich!“

„Das Kreuz steht fest, während sich die Welt sich dreht“.

Keine andere Autorität verfügt über ein so privilegiertes Wort wie das eines römischen Papstes, um die Bedeutung der Geschichte hervorzurufen. Keine andere Institution nimmt einen so zentralen Platz in den menschlichen Angelegenheiten ein wie das Rom der Päpste.

Die Geschichte entfaltet sich am Fuße des Kreuzes gemäß dem Kartäusermotto „Stat Crux dum volvitur orbis“ (Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht). Im Studium der Geschichte der Kirche und der christlichen Zivilisation finden wir daher den einzig wahren Schlüssel zur Deutung der Ereignisse eines jeden Zeitalters. Für uns Christen ist die Geschichte der Kirche eine Abhandlung über das geistliche Leben, in der wir wie in keiner anderen Geschichte Spuren von Heldentum, Intelligenz und Kreativität erkennen können. Das Apostolische Schreiben Annum ingressi sumus bietet eine klare und prägnante Analyse der tiefen Wurzeln der gegenwärtigen Krise.

Auf den Seiten des Legionário hatte Plinio Corrêa de Oliveira oft seine große Besorgnis über die rasanten, manchmal wahnsinnigen sozialen Veränderungen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Ausdruck gebracht. Im Jahr 1902 erschien das Apostolische Schreiben von Leo XIII. wie ein Strahl des Lichts und der Wahrheit. Ein halbes Jahrhundert später zeigte Plinio Corrêa de Oliveira der Welt, dass dieses Licht immerwährend war und dass es im Gegensatz zu dieser Wahrheit möglich war, die in diesen Veränderungen enthaltenen Irrtümer zu erkennen.

Drei Etappen im Prozess der Zerstörung der christlichen Zivilisation

Wenn man zwei Szenen nebeneinander stellt, eine aus „der Zeit, als die Philosophie des Evangeliums die Staaten beherrschte“, also aus dem Mittelalter, und die andere aus der heutigen Gesellschaft, stellt sich die Frage: Wie war ein solcher Wandel möglich? Wie wurden die Grundsätze des Evangeliums so radikal verleugnet?

Das Dokument von Leo XIII. gibt die Grundzüge dieser Leugnung wieder. In Wirklichkeit handelt es sich um eine einzige Verneinung in drei aufeinander folgenden Stufen. Die erste Stufewar Luthers Verleugnung, die ebenfalls dreifach war: Verleugnung des Papsttums, Verleugnung der zentralen Rolle der Gottesmutter in der Heilsgeschichte, Verleugnung der Heiligen Eucharistie. Der zweite große historische Schritt war die Französische Revolution. Sie brachte die egalitären Prinzipien der lutherischen Revolte zum Tragen und wandte sie auf den sozialen Bereich an. Die Revolutionäre von 1789 lehnten sich gegen den König auf, so wie Luther sich gegen den Papst aufgelehnt hatte, und proklamierten die Volkssouveränität, wie es auch einige protestantische Sekten taten. Dann kam die dritte Stufe, der Kommunismus, der die gleichen Prinzipien im wirtschaftlichen und politischen Bereich anwendet.

Leo XIII. wies darauf hin, dass es sich im Grunde um einen unerbittlichen Krieg gegen die Heilige Kirche und gegen die christliche Zivilisation handelte. Warum das mittelalterliche Christentum zerstören, das „Früchte getragen hat, die wertvoller nicht sein könnten“ (5), fragt sich der Papst.

Der Papst fragt weiter, indem er eine Parallele zwischen der Geschichte der Kirche und dem Leben ihres göttlichen Gründers zieht: „Wen hat der göttliche Erlöser beleidigt oder verleumdet? Er kam unter die Menschen durch den Impuls unendlicher Nächstenliebe, er hatte eine unbefleckte, tröstliche Lehre gelehrt, die höchst wirksam war, um die Menschheit in Frieden und Liebe zusammenzuführen; er hatte keine irdische Größe oder Ehre begehrt, er hatte sich nicht die Rechte von irgendjemandem angemaßt: er war vielmehr äußerst mitleidig mit den Schwachen, den Kranken, den Armen, den Sündern, den Unterdrückten, so dass sein Leben nur ein Durchgang war, um mit breiter Hand Gutes unter die Menschen zu säen“. Dennoch wurde er gekreuzigt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die katholische Kirche, die Fortsetzerin ihrer göttlichen Mission und die unbestechliche Bewahrerin ihrer Wahrheit, das gleiche Schicksal wie ihr Meister erlitten hat.

Egalitarismus, gemeinsames Substrat der drei Revolutionen

In seinem Meisterwerk Revolution und Gegenrevolution entwickelt Plinio Corrêa de Oliveira den von Papst Leo XIII. vorgeschlagenen Begriff der Revolution weiter, der sie als „verderbliche und unredliche Arbeit....“ definiert  „deren Grund im Krieg gegen Gott und seine Kirche besteht“. Der brasilianische Denker zeigt, dass das Substrat der Revolution in all ihren Phasen und Erscheinungsformen der Egalitarismus ist: kirchliche Gleichheit im Protestantismus, soziale Gleichheit in der Französischen Revolution, wirtschaftliche Gleichheit im kommunistischen Regime.

Der Egalitarismus ist ein Prinzip, das die christliche Zivilisation aufzulösen droht. Leo XIII. spricht von einer „umgekehrten Gesellschaft“. Sie verkündet die absolute Gleichheit der Menschen, die Gleichheit der Geschlechter, die Gleichheit der Kleidung, die Gleichheit sogar zwischen der katholischen Religion und den heidnischen Kulten. Da Gott, wie der heilige Thomas erklärt, die Menschen ungleich geschaffen hat, nimmt die Auferlegung der Gleichheit in der Gesellschaft den Charakter eines echten Hasses gegen ihn an. Durch die Verleugnung der natürlichen Unterschiede breitet sich das Chaos in allen Bereichen der Gesellschaft aus und bereitet die Bühne für eine Explosion der Rache der verletzten Natur.

Unverständliches Schweigen zu einem so wichtigen päpstlichen Dokument

Das Apostolische Schreiben des Papstes, das wichtige Grundsätze für die katholische Welt enthält, wurde in kirchlichen Kreisen weitgehend ignoriert. Es wurde wenig darüber gesprochen. In den zahlreichen katholischen Vereinigungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war das Dokument nicht Gegenstand von Studien oder Diskussionen. Die Kommentare gingen nicht über Pro-forma-Reaktionen hinaus. Ein unverständliches Schweigen legte sich über den Apostolischen Brief, umso mehr, als er die einzige wirkliche Lösung für die Übel enthielt, die die Kirche und die christliche Zivilisation heimsuchten. Plinio Corrêa de Oliveira war überzeugt, dass der Brief ein tragfähiges Programm der katholischen Erlösung enthielt.

Man kann nicht über die Absichten urteilen, aber es ist legitim zu fragen, warum so viel Verachtung für ein päpstliches Dokument von solcher Bedeutung. Die plausibelste Antwort scheint zu sein, dass das Apostolische Schreiben Annun ingressi sumus eine Interpretation der geschichtlichen Tatsachen enthielt, die mit den Tendenzen kollidierte, die leider schon damals das entwarfen, was später als Modernismus (sowohl theologisch als auch gesellschaftlich) bezeichnet wurde, der Vater der Nouvelle Théologie und später der Befreiungstheologie. Diese häretischen Tendenzen, die heute in der Kirche vorherrschen, schlagen eine historische Interpretation vor, die derjenigen von Papst Leo XIII. entgegengesetzt ist.

Plinio Corrêa de Oliveira ist der Meinung, dass das revolutionäre Chaos, in das das 20. Jahrhundert gestürzt ist, hätte vermieden werden können, wenn sich die Katholiken auf die Lehre von Papst Leo XIII. berufen hätten.

 

Anmerkungen

1) „Katholische Bewegung“ war die Bezeichnung, die in Brasilien für alle Laienbewegungen verwendet wurde. Plinio Corrêa de Oliveira war der Leiter der Marianischen Kongregationen, der Speerspitze der katholischen Bewegung.

2. Der Brief wurde ursprünglich auf Französisch und Italienisch verfasst und dann ins Deutsche übersetzt. Erst später kam der lateinische Text heraus.

3. Nova et Vetera. „Parvenu à la vingt-cinquième année », Legionário, 18. März 1945, n° 658; “As encíclicas de Leão XIII”, Legionário, 20. Juli 1941, n° 462; “Um recuo estratégico”, Legionário, 15. Oktober 1944, n° 636; “Partidos, Candidatos, Eleições”, Legionário, n° 694, 25. November 1945.

4. “O século da guerra, da morte e do pecado”, Catolicismo nº 2, Februar 1951; “Heresiarcas de hoje e de outrora”, Catolicismo nº 16, April 1952.

5. Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei, 1.11.1885, in ASS, Bd. XVIII, S. 169.

 

Aus dem Italienischen mit Hilfe von Deepl Übersetzer (kostenlose Version) von “La teologia della storia, l’insegnamento di Leone XIII e il pensiero di Plinio Corrêa De Oliveira”, in Rivista Tradizione Famiglia Proprietà, Februar-März 2022.

© Nachdruck oder Veröffentlichung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

Diese deutsche Fassung „Die Theologie der Geschichte, die Lehre von Leo XIII. und das Denken von Plinio Corrêa De Oliveira“ erschien erstmals in www.p-c-o.blogspot.com


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